Die neue Leichtigkeit des Steins

5. Reinkarnation

IMG_20200901_105016Das Sein, als geistiges Wesen, materialisierte sich und wurde mehr anstatt weniger. Genau genommen wurde es ein „T“ mehr. Aus dem Sein wurde STEIN!

Dieser Prozess war ein langsamer und beständiger. Aber das Sein stand hoch aufgerichtet auf seiner Höhe und sprach klar, deutlich und beherzt. Und während es sprach, verwandelte es sich. Es wechselte beständig seine Farben, variierte seine Größe– zwischen beachtlich groß und niedlich klein. Langsam nahm es eine Form an. (Tatsächlich war es vorher vollendet formlos gewesen!) Und während es sprach wurde es zu einem großen Mund. Ein großer sprechender Mund mit sinnlichen Lippen. Und seine sich wandelnde Farbenpracht floss zusammen, bis der sinnliche sprechende Mund ein gläserner Stein wurde. Wie ein Opal wirkte er – wie ein tiefer Spiegel, in dessen bodenlosem Raum alle Farben des Spektrums verhalten changierten.

Dieser Stein sprach. Die Lippen bewegten sich. Auch die Sprache des Steins war verwandelt, nicht mehr klangvolle Worte tönten, sondern vielschichtige Bilder verließen die steinernen Lippen. Diese Bilder lebten. Sie schwebten dreidimensional durch den Raum, verwandelten sich und schienen ein eigenes Leben zu führen. Kaum war ein Bild gesprochen, gesellte sich schon das nächste dazu.

Die anwesenden Künstler, die die Verwandlung des ehemaligen Seins mitbekommen hatten, reagierten gelassen und waren eher mit den gewaltigen umher schwebenden Imaginationsbildern be-schäftigt. Sie fingen sie mit ihren Seelen auf. Und für jeden Künstler war das aufgesogene Bild, genau das, was er suchte. Die Musiker erlebten die Bilder als berauschende Musik, die Bildhauer als herrliche Plastiken, und so durch alle Gewerke der Kunst. Und sofort, an Ort und Stelle bauten die Künstler neue Werke, so dass eine gewaltige Landschaft entstand aus Licht, Farben, getöpferten, gehämmerten und auch gesprochenen, erklingenden und geschriebenen. Rund um den sprechenden Stein entstand eine Landschaft von einer herrlichen schönen, vielfältigen, bizarren und vor allem unbeschreibbaren Qualität. Die Künstler waren in ihre Arbeiten vertieft. Nichts und niemand konnte sie stören. Und immer mehr Künstler strebten herbei, magisch angezogen durch die lebenden Bilder. Und auch die Arten der Kunst wurden immer mehr. Es entstanden Filme, Schauspiele und Performances. Aber auch Gartenkünstler pflanzten Wunderblumen und die Kunsthandwerker lieferten kunstvolle Gebilde, in denen sie wachsen konnten.

Und die Welt der erstarrten Menschen? „Kunst verändert alles – auch Dich“ stand auf einer alten Tür, die in der neuen bizarren Kunstwelt in einer stillen Ecke lehnte. Irgendwie schien dieser Satz eine Wahrheit zu haben. Oder eine Macht. Oder er ist ein geheimer Schlüssel. Wer weiß es denn?

Die phantastische Welt der Kunst, der Farben, Gerüche, aber auch Gedanken und Hoffnungen breitete sich langsam aus. Überall, wohin die Winde der Welt diese Samen trieben, wurde es etwas heller, freundlicher und zartes Lachen klang auf. Überall wo die Kunst anfing zu wirken, schrumpfte die Angst und nahm sehr langsam ihre ursprüngliche Gestalt wieder an. Und die ersten Kinderstimmen riefen „Pfui bist Du hässlich, verschwinde schnell!“ Und die Angst schrumpfte. Die Menschen erwachten, sahen sich verwundert um und gingen langsam wieder auf einander zu. Die Vielen, die inzwischen nur noch in Hass miteinander verkehrt hatten, schauten schüchtern und murmelten Entschuldigungen. Plötzlich standen sie im lockeren Gespräch miteinander und die ersten Frauen hakten sich unter und promenierten die neu beblühten Wege entlang.

Der Obrigkeit, die die Menschen ihrer Freiheit und ihres Angesichts beraubt hatte, erging es nicht so erfreulich. Aber das ist eine andere Geschichte

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